die elegant in Schwarz gekleidete Mittsechzigerin – der Salon war für Jüdinnen, Kroatinnen, Musliminnen und Serbinnen ein Ort, an dem sie gemeinsam das Grauen ringsherum kurz vergessen konnten. Doch in der belagerten Stadt gab es kaum Schönheitsprodukte und Haarpflegemittel zu kaufen. Daher bat ich nach meiner Rückkehr nach München Freundinnen, die für Mode- und Frauenzeitschriften arbeiteten, Kosmetika und Shampoo für mich zu sammeln. Nach kürzester Zeit stapelten sich Tüten und Kisten voller Lippenstifte, Wimperntusche, Puderdosen, Cremetuben, Flaschen voller Body Lotion und Haarspülung in meiner Wohnung. Verstaut in einem Lastwagen der jüdisch-humanitären Organisation "La Benevolencija Sarajevo", der Hilfsgüter in die umzingelte Stadt transportierte, erreichten die "Preziosen" ihr Ziel.
Senka Kurtović, damals Journalistin bei der renommierten bosnischen Tageszeitung Oslobodenje (Befreiung), schilderte mir, wei sie geschminkt, mit perfekt sitzender Frisur und gebügelter Bluse zur Redaktion ging. Ihr Weg führte sie entlang der gefürchteten sogenannten Sniper Alley (Allee der Schaftschützen), trotzdem trug sie meist Pumps. "Ich habe Freunden immer geschrieben, schickt mir Make-up und Parfüm, kein Geld oder Lebensmittel. Schminken war Pflicht, jedes Mal so, als ob es das letzte Mal sein würde." Über die bewundernswerte und beispiellose Haltung der Frauen Sarajevos sprach ich mit Christiane Amanpour, der internationalen Chefkorrespondentin des amerikanischen Fernsehsenders CNN, die jahrelang über den Bosnienkrieg berichtete: "Ich lernte, dass unter Beschuss, unter den mittelalterlichen Bedingungen unter denen die Frauen leben mussten, schön sein zu wollen, nichts mit Eitelkeit zu tun hatte, Es ging darum, ihre Menschlichkeit zu bewahren." |
|
Im Laufe der Zeit kontaktierte und traf ich einige der Frauen und fing an, ihre Geschichten zu sammeln. Geschichten über Würde und Weiblichkeit, über Würde und Schönheit, über Würde und Widerstand. Libuše Brodová, Historikerin in Prag, wurde nach 1968, nach dem Einmarsch von Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten, in den sogenannten Zeiten der "Normalisierung" gezwungen, 15 Jahre lang als Putzfrau zu arbeiten. Sie leistete auf ihre Art Widerstand: "Trotz der schweren Zeiten habe ich nie resigniert oder gar meine Weiblichkeit vernachlässigt. Ganz im Gegenteil. Ich war immer eine Modedame."
Die Schicksale der Frauen berührten mich. Ich wollte ihnen eine Stimme geben, und ich wollte das gängige Klischee, das Tabu hinterfragen, dass Äußerlichkeit in solchen Situationen völlig unwichtig seien. Jede Frau erzählt eine ganz eigene Geschichte, eine ganz andere Geschichte, jede auf ihre besondere Art vom "Verlangen nach Weiblichkeit" in Zeiten großer Not, während der Gräuel und Wirren des 20. Jahrhunderts sowie des angehenden 21. Jahrhunderts.
Es entstand eine Sammlung von Frauenporträts und Interviews sowie Gesprächen mit Expertinnen.
Im Laufe meiner Recherche erzählte mit eine Freundin die Geschichte von Zara Murtazalieva. Es ist die Geschichte einer jungen Tschetschenin, die im Alter von 20 Jahren, während sie in Moskau arbeitete, unschuldig in das Räderewerk der Putin’schen Justiz geriet. 2004 wurde sie zu acht Jahren und sechs Monaten Haft in einem der entlegenen Straflager der Region Mordowinien verurteilt. In dem Straflager mussten die Häftlinge Zwangsarbeit leisten und Häftlingsuniform sowie Kopftuch tragen. Zara brachte es fertig, sich vor dem Morgenappell das Haar auf Lockenwickler aus Papier einzudrehen und sich zu schminken. |
|
Mit gewelltem Haar, aufgetragenem Eyeliner und Lippenstift in der Fabrik zu sitzen, hieß für sie in der grauen Masse der Häftlinge ihre Individualität zu wahren: "Ich glaube, dass das Bedürfnis sich um sein Äußeres zu kümmern in Extremsituationen stärker, viel stärker ist als im normalen Leben. Man versucht die Welt, in der man einst gelebt hat, zu erhalten. Man will beweisen, dass man immer noch stark und die Seele nicht zerbrochen ist. Man will auch beweisen, dass sich im Leben nichts verändert hat, dass dies nur vorübergehende Probleme sind, die man überwinden kann und muss. Dies ist die Herausforderung."
26.10.2014 ■ HENRIETTE SCHROEDER
Cover © Daniel Biskup
"Ein Hauch von Lippenstift für die Würde – Weiblichkeit in Zeiten großer Not" von Henriette Schroeder ist im Elisabeth Sandmann Verlag erschienen. 304 S., 24,95 €.
Wenn Ihnen der Artikel gefiel, würden wir uns über einen Beitrag zu unserer Arbeit sehr freuen. Danke.
|
|